Dolf Bissinger

 

Ein Stadtkunst - Projekt

von Dolf Bissinger und Henri Stridde

Bremer Kunsthalle - Kunstfrühling 2005

Tieferlegen ist etwas, das manchen Autos widerfährt. Autostraßen tieferlegen ist etwas Selteneres. Den künstlerisch-städtebaulichen Vorschlägen von Dolf Bissinger und Henri Stridde gemäß soll ein solch seltenes urbanistisches Tuning in Bremen durchgeführt werden. Es betrifft die dortige Hochstraße, jene aufgeständerte Straße zwischen Rembertiring und Nordwestknoten. Sie soll umfunktioniert werden, auf ökologische Art recycelt oder technisch bzw. pyrotechnisch abgerissen werden, um sie durch einen baumbestandenen Boulevard zu ersetzen.

Vor ihr Plädoyer für einen möglichen Soll-Zustand haben Dolf Bissinger und Henri Stridde die Untersuchung des Ist-Zustandes gesetzt. In der Manier von Ed Ruschas „Every Building on Sunset Strip“ haben sie die Hochstraße Stück für Stück von beiden Seiten fotografiert. Foto für Foto haben sie nebeneinander gefügt und so die Hochstraße en miniature collagiert. Die Collagen beider Seiten sind nichtsdestotrotz wandfüllend. Sie messen pro collagiertes Stück etwa einen halben mal zehn Meter. Die originale Hochstraße hat eine Länge von etwa einem Kilometer und verläuft etwa auf Höhe des zweiten bzw. dritten Stocks der angrenzenden Häuser. Die Collagen zeigen, wie sehr die Hochstraße als Sichtblende aus Stahlbeton den Blick auf die angrenzenden Bauten verstellt. Sie zeigen, dass ältere Gebäude sich der Hochstraße nicht zu schämen scheinen. Viele Fenster sind wie interessierte Augen auf die Hochstraße gerichtet. Ein jüngerer Bau wie das Cinemaxx scheint dagegen die in die Jahre gekommene Straße ignorieren zu wollen. Er wendet der Hochstraße als einzige Öffnungen Notausgänge zu. Einen solchen Blickwechsel vom Optimismus zum Pessimismus konstatiert Franz Rosenberg, ehemaliger Senatsbaudirektor, mit folgenden Worten: „Für die Hochstraße als Bauwerk war eine formal elegante Form gefunden worden, und die entlastende Funktion für den Bahnhofsvorplatz war evident. Trotzdem war ich entsetzt, als ich die Hochstraße zum ersten Mal befuhr, denn von einem Raumerlebnis konnte keine Rede sein, weder für den Autofahrer oben auf der Hochstraße noch für den Verkehrsteilnehmer auf dem Straßenniveau des Breitenweges. Es war ein schmerzlicher Mißerfolg, und es gab keine Entschuldigung, ich hatte mich vollkommen getäuscht, und daß ich mich in guter und zahlreicher Gesellschft befunden hatte, war kein Trost.“ Den Fotos des Ist-Zustandes hängt ein Digitaldruck gegenüber eines möglichen Soll-Zustandes. Er zeigt die Hochstraße aus der Luftperspektive als grünen Gürtel. Ideen der Künstler Bert Theis und Hermann de Vries aufgreifend, schlagen Dolf Bissinger und Henri Stridde vor, die Hochstraße mit Erde aufzufüllen und brachliegen zu lassen, auf dass sich die Vegetation wie bei der Bremer „Uni-Wildnis“ selbst organisiert. Mittelfristig überdeckt die Natur so die Architektur in der Art „Hängender Gärten“. Langfristig verleibt die Natur sich die Architektur ein. Ein ökologischer Abriss, der schöner und vermutlich günstiger ist als die mechanische Variante des Abrisses, vermutlich auch günstiger als die Beton-Sanierung. Als weiteren wichtigen Ideengeber führen die Künstler den Schriftsteller Franz Hohler an, der in der Erzählung „Die Rückeroberung“ schildert, wie insbesondere die Fauna mit der Stadt Zürich das macht, was die Flora mit der Bremer Hochstraße machen soll. Die Natur holt, nicht ohne Widerstände von Seiten der Menschen, die Kultur ein, zumindest in Teilen. Dolf Bissinger und Henri Stridde haben „Die Rückeroberung“ lesen lassen und dies aufgezeichnet. Das Video der Lesung präsentieren sie als weiteres Schaustück. Ihr Vorleser ist Bremer. Sein Haus, in dessen Wintergarten er liest, liegt in der Bremer Altstadt. Der Wintergarten als Ort der Lesung ist mit Bedacht gewählt – ein Ort der Architektur auf dem Sprung zur innerstädtischen Natur. Und auch der Vorleser ist mit Bedacht gewählt – Eberhard Kulenkampff, ehemaliger Senatsbaudirektor. Ihn konnten Dolf Bissinger und Henri Stridde gewinnen, weil sie als Urbanisten argumentieren, die differenzieren können. Sie wollen nicht die Natur alles schleifen lassen, sondern wollen nur Schlechtes schleifen, Gutes belassen und Besseres – zugunsten des öffentlichen Raumes – bauen. Ihr viertes Werk ist so eine freie Bleistiftzeichnung für eine mögliche Bebauung des Bahnhofvorplatzbereiches. Dabei zählt der Bau weit weniger als der Effekt der Bebauung auf das Umfeld. Denn durch einen Bau bekommen die Straßen und Plätze der Umgebung ihre senkrechten Grenzen: der Bahnhofsvorplatz; die Bahnhofstraße; der Breitenweg; und der Platz um den Herdentorsteinweg herum. Voraussetzung für die Bebauung des „Tortenstückes“ aber ist vermutlich der Abriss der Hochstraße. So soll sie nicht als Sichtblende aus Stahlbeton die Stadtwanderer stören. Entsprechend zeigt die Zeichnung die Hochstraße schon als tiefergelegte Straße, als baumbestandenen Boulevard.

Auf die Art begründen Dolf Bissinger und Henri Stridde die Notwendigkeit der Umfunktionierung der Hochstraße. Sie geben durch ihr diesbezügliches urbanistisches Projekt ihr Votum ab. Wie die Umfunktionierung sich des Weiteren konkretisieren lässt, überantworten sie öffentlichen Diskussionen. Dolf Bissinger und Henri Stridde schlagen diesbezüglich Anhörungen von Sach- und Fachverständigen aus den Bereichen Stadtplanung, Kunst und öffentlicher Raum sowie Architektur und Freiraumplanung vor. Nebenbei unterlassen sie es nicht, sich in ein radikales urbanistisches Tuning einweisen zu lassen: das Sprengen.